von Dr. sc. ETH Peter Krummenacher, Gründer von brainability
Paradoxien managen & Potenziale in Organisationen entfalten
Unser Wissen wächst mit einer ungemein rasanten Geschwindigkeit. Sollten wir da die Welt nicht auch immer besser verstehen und vorhersagen können?
Paradoxerweise beobachten wir genau das Gegenteil. Wir haben es mit einer ungemein schnellen Alterung von Informationen und Erfahrungen zu tun. Das neu entdeckte Wissen führt zu immer eruptiveren ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen. Je spezialisierter und genauer wir messen, je mehr Daten wir sammeln und je besser wir alle die Daten verarbeiten können, desto chaotischer und unerwarteter werden die Ereignisse und desto mehr Reaktionen rufen sie hervor. Wissen zieht neue Verhaltensweisen nach sich. Soziale Systeme reagieren auf unsere Beobachtungen und Prognosen – ganz im Gegensatz zum unbeeindruckbaren Wetter.
In komplexen, undurchschaubaren Systemen wie einer Organisation lassen sich weder alle Alternativen mit ihren Konsequenzen benennen, noch lässt sich eindeutig mittels logischen Kriterien oder Algorithmen objektiv klären, welches die richtige Entscheidung darstellt.
Innovation oder Routine? Sicherheit oder Tempo? Stabilität oder Wandel? Controlling versus Kreativität? Alles logisch unentscheidbare Fragen mit Dauerkonfliktpotential – paradox, aber der Normalfall.
Das Spektrum an beobachtbaren Mustern der Paradoxiebearbeitung in Organisationen ist mannigfaltig. Von der Entscheidungsvermeidung durch Negation der einen Seite, intransparenten Chaosmustern, über wildes hin und her springen zwischen den Alternativen bis hin zu organisationsinternen Spaltungen.
Oftmals suchen Führungskräfte, die mit paradoxen Fragestellungen konfrontiert werden, ihre Sicherheit in vermeintlich klaren rationalen Entscheidungen. Im Sinne einer zweiwertigen Entweder-oder-Logik, die eine dauerhafte Lösung versichern soll. Ein Schelm, wer denkt, dass die rationale Begründung ein Mittel zur Verantwortungsvermeidung von Entscheidungen sein könnte!
Einseitige Umsetzung und Fokus, wie zum Beispiel nur auf Innovativität und Unternehmertum ohne Berücksichtigung einer Kultur der Fehlerfreundlichkeit oder kreativem Dissens haben ihren Preis. Solche Entscheidungen hinterlassen verständlicherweise viel Unmut und Unzufriedenheit. Sobald man sich für eine Seite entschieden hat, erinnert die andere Seite daran, dass es sie ja auch gibt – und genau so gut ist.
Widersprüche intelligent verbinden – „the Attitude of Wisdom„
Jede Organisation ist durch Paradoxien charakterisiert, die weder entschieden noch beseitigt werden können. Aus diesem Grund muss Führung dafür sorgen, dass immer wieder neu zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten entschieden wird, und dafür die Verantwortung übernehmen. Jede vermeintliche eindeutige und dauerhafte Lösung entfernt nicht die Paradoxie, sondern gibt ihrer Dringlichkeit nur vorübergehend eine Verschnaufpause. Aus systemtheoretischer Perspektive kann Führung daher auch immer nur begrenzt rational sein.
Der Erfolg der Organisation kann sich daher nicht am Einen oder Anderen orientieren, sondern am Umgang mit gleichzeitig vorhandenen Gegensätzen: an der Art und Weise wie eine Organisation Möglichkeiten erfindet, widersprüchliche Anforderungen und ambivalente Prinzipien intelligent zu vereinen. Karl E. von Weick hat diese Art von Intelligenz als „the attitude of wisdom“ bezeichnet. Als fortlaufender Such- und Reflexionsprozess erfordern sie von allen Beteiligten kollektive Achtsamkeit für jeweils beide Seiten.
Ambiguitätstoleranz & potenzialentfaltende Führungsarbeit
Die Bearbeitung und Entfaltung von Paradoxien sowie der Umgang mit Unentscheidbarkeit und Ambiguität stellt daher eine zentrale Kompetenz von Führung dar. Clever eingesetzt, kann sie als organisationaler Kreativitätsschrittmacher wirken und Potenziale entfalten.
Für die Praxis führt das zum Beispiel zu folgenden Fragen: Was wollen wir bewahren, damit wir uns verändern können? Welche Routinen und Strukturen brauchen wir, damit wir kreativ sein können? Wie kann ein kultureller Zusammenhalt hergestellt werden, der kreativen Dissens ermöglicht? Wie kann auf der Basis einer „Fehlerkultur“ Innovativität und Unternehmertum gefördert werden?
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Referenzen
- Groth, T. (2017). 66 Gebote systemischen Denkens und Handelns in Management und Beratung, Heidelberg: Carl-Auer.
- Harari, Y.N. (2017). Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München: C.H. Beck.
- March, J.G. & Simon, H. (1958). Organizations, Cambridge: MA (Blackwell).
- Simon, F.B. (2013). Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxie-Management in Familie, Wirtschaft und Politik, Heidelberg: Auer.
- Simon, F.B. (2013). Gemeinsam sind wir blöd?! Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten, Heidelberg: Auer.
- Weick, K.E. (1998). The Attitude of Wisdom: Ambivalence as the Optimal Compromise – in Organizational wisdom and executive courage, San Francisco, Calif: New Lexington Press, S. 40-64